Einführung

Warum können wir in der Natur Orchideen ein und derselben Art mit unterschiedlichen Farben finden? Die Antwort hängt vom genetischen Bauplan der jeweiligen Art ab.

1. Einige Orchideen haben ein genetisches Modell, das Blüten in verschiedenen Farben ermöglicht. So hat zum Beispiel Dactylorhiza sambucina meistens gelbe Blüten, aber es gibt auch oft Pflanzen mit roten Blüten. Gelb blühende Pflanzen bringen gelb blühende Nachkommen hervor und umgekehrt. Aber bei Kreuzungen zwischen beiden sind auch Zwischenfarben entstanden (Svante Malmgren/Henric Nyström). Dieses Nebeneinander von zwei Farben scheint ein besonderes Kennzeichen von Dactylorhiza sambucina zu sein.

2. Farbänderungen sind eine von mehreren Möglichkeiten für die Entwicklung abweichender Varianten einer Orchideenart. Arten mit einer großen Formenvielfalt der Blüten haben oft auch unterschiedliche Blütenfarben – z.B. Anacamptis morio:

Anacamptis morio

3. Jenseits dieses breiten Spektrums von Variationen zeigen einige Orchideen auch individuelle genetische Merkmale, die zu weißen Blüten führen. Diese Formen werden im allgemeinen als genetische Abweichungen verstanden, als Abwesenheit derjenigen Pigmente, welche die Farbe einer Blüte bestimmen. Die damit verbundenen Begriffe lauten Hypochromie (als Gegenbegriff zur Hyperthermie, die eine exzessive Pigmentierung, also eine besonders intensive Färbung, bezeichnet) oder Albiflora-Formen. Als „alba“ oder „albiflora“ bezeichnete Formen haben Blüten, denen jede farbige Pigmentierung fehlt und die rein weiß sind (Olaf Gruss: Albino Forms of the Slipper Orchids. In: Orchid Digest. Vol 69 (4), 2005. S.204). Die Bildung roter Blütenfarbstoffe kann bei einzelnen Individuen gelegentlich gehemmt oder völlig blockiert sein, so dass bei Arten, die nur rote Blütenfarbstoffe besitzen, dann blassrote bis weiße Farbformen entstehen (Wolfgang Wucherpfennig: Die Orchidee des Jahres 2007: das Schwarze Kohlröschen Nigritella nigra subsp. rhellicani, ein Kleinod der Berge. In: Berichte aus den Arbeitskreisen Heimische Orchideen Jg. 24 – Heft 1 – 2007. S.26). Ein Beispiel ist die weiße Variante von Anacamptis pyramidalis.

Anacamptis pyramidalis

4. Manche bezeichnen bereits diese individuelle genetische Besonderheit als Albinismus: In diesem Verständnis wird eine Pflanze mit Blüten ohne rote Pigmente umgangssprachlich als Albino bezeichnet – die Blüten können, hellgrün, gelblich oder weiß sein. Aber in einem strikten botanischen Sinn ist ein Albino eine Pflanze, der Chlorophyll fehlt: Daher ist Albinismus die völlige Abwesenheit von grünem Pigment. Da die meisten hier vorgestellten Orchideen grüne Blätter haben, handelt es sich also nicht um Albinos, sondern um Albiflora-Formen. Manchmal herrscht die weiße Farbe nur in einem Teil der Blüte vor. In anderen Fällen ist die ganze Blüte reinweiß, einschließlich der Pollinien.

Nur wenn die ganze Pflanze völlig weiß ist, einschließlich der Blätter, kann man von einem Albino sprechen. Dies ist etwa beschrieben worden für Epipactis helleborine oder für Malaxis bayardii im US-Staat Massachusetts, benannt als Malaxis bayardii forma kelloggiae (Paul Martin Brown: An Albino Adder’s Mouth from Cape Cod, Massachusetts. In: North American Native Orchid Journal, 11/2005. p. 4-5).

Sowohl Albinismus als auch Albiflora-Formen werden genetisch rezessiv vererbt – ein Abkömmling kann die weißen Blüten behalten, kann aber auch Blüten in der üblichen Farbe der Art entwickeln. Bei einigen Arten sind die weiß blühenden Formen relativ häufig und bilden stabile Bestände aus. Bei tropischen Orchideen haben Albino-Formen ihren eigenen floristischen Wert und werden daher entsprechend gezüchtet. Dieses Interesse hat schon früh Forschungsarbeiten angeregt, die zu interessanten Ergebnissen geführt haben. So war es zum Beispiel möglich, durch das Kreuzen von zwei weißen Orchideen eine farbige Orchidee zu erzeugen.

Begriffe wie „Abweichung“, „Anomalie“ oder „Mangel“ beziehen sich auf eine bestimmte Norm oder einen Standard und definieren die weiß blühende Orchidee nur aufgrund des negativen Sachverhalts, nicht dieser Norm zu entsprechen. Diese Begrifflichkeit mit ihren abwertenden Assoziationen soll hier nicht weitergeführt werden. Statt dessen werden weiß blühende Orchideen einer farbig blühenden Art als Besonderheit betrachtet, mit der die Natur einen neuen Weg einschlägt. Das Ergebnis wird man erst in einigen Millionen Jahren kennen.

Orchis simia
Die Natur als Experimentallabor: Orchis simia f. albiflora (links) und Orchis purpurea x simia (rechts)

Albiflora-Formen der Orchidaceae – mehr als eine Laune der Natur